Ich packe das Paket aus. Es kam gerade per Post an. Ich kann es kaum erwarten. Es ist das Buch „Plantation Memories – Episodes of Everyday Racism“ von Grada Kilomba. Eine Mitarbeiterin der Fasiathek, einem Lernzentrum mit Präsenzbibliothek in Hamburg, hat es mir empfohlen. Ich blättere durch und fange an, ein paar Zeilen anzulesen, das mache ich immer gerne, wenn ich ein neues Buch in der Hand halte. So gewinne ich einen ersten Eindruck vom Schreibstil. Ich lese:
„Every semester, on the very first day of my seminar, I quiz my students to give them a sense of how knowledge and racial power intertwine. We first count how many people are in the room. Then I start by asking very simple questions: What was the Berlin Conference 1884-5?”
Im Kopf sage ich mir: Das war die Konferenz, in der Afrika durch Kolonialmächte, federführend durch Bismarck aufgeteilt wurde.
Ich lese weiter im Buch:
„Which African countries were colonized by Germany?”
In meinem Kopf fange ich an aufzuzählen: Ruanda, Togo, Namibia … und plötzlich fällt mir nichts mehr ein. Es ist mir peinlich.
Die Autorin stellt weitere Fragen. Fragen, die man selbstverständlich beantworten können sollte – einen Teil weiß ich, einen Teil weiß ich nicht. Manches in meinem Kopf weckt altes Wissen, aber präzise und klar benennen kann ich vieles nicht.
Sie schreibt weiter: „Not surprisingly, most of the white students seated in the room are unable to answer the questions, while the Black students answer most of them successfully. Suddenly, those who are usually unseen become visible, while those who are always seen become invisible. Those who are usually silent start speaking, while those who always speak become silent. Silent, not because they cannot articulate their voices or their tongues, but rather because they do not possess that knowledge.”
Ich fühle mich in diesem Abschnitt mitgemeint. Spannenderweise beschäftige ich mich nun seit fast zwei Jahren intensiv mit den Auswirkungen von Rassismus und noch immer habe ich große Wissenslücken. Natürlich will ich es mir schön reden: „Ach, ich habe mich halt erst auf Sklaverei fokussiert. Ich blicke mehr auf die amerikanische und karibische Geschichte.“
Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, werde ich mit großer Sicherheit auch dort Fragen gestellt bekommen, die ich nicht beantworten könnte. Und wenn ich noch ehrlicher zu mir selbst bin, muss ich auch zugeben, dass ich mich in anderen Bereichen der Geschichte, der deutschen Geschichte, um Welten besser auskenne. Sei es das Mittelalter, der Holocaust oder die DDR.
„Who knows what? Who doesn’t? And why?” lautet der letzte Absatz in Grada Kilombas‘ Buch. Diese drei Fragen fassen zusammen, was mir auf meiner eigenen Lernreise immer deutlicher wird: Wie systematisch der Kolonialismus in meinen alten Schulbüchern, im Lehrplan, an der Universität, in Museen und Ausstellungen ausgeblendet wurde und wird. Erst letzte Woche habe ich das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg besucht und ärgerte mich darüber, dass man noch immer in einem Ausstellungstext von der „Entdeckung Amerikas durch Kolumbus sprach“. Warum ich mich ärgerte?
Gegenfrage: Wie kann man etwas entdecken, das längst existiert?
Die Bezeichnung „Entdeckung Amerikas“ ist problematisch. Sie vermittelt, dass der Kontinent vor Ankunft der Europäer leer oder unbewohnt gewesen sei – eine Annahme, die die Existenz und Kulturen der indigenen Bevölkerung ignoriert. Tatsächlich lebten in Amerika bereits Millionen Menschen, als Kolumbus dort ankam. Die Bezeichnung „Entdeckung“ verklärt und romantisiert. Was bleibt, ist eine Darstellung, die über die grausame Realität der Eroberung hinwegtäuscht.
Doch zurück zu meiner Wissenslücke. Ich entschloss mich, noch vor dem Weiterlesen zu recherchieren – auch aus dem Antrieb heraus, zukünftig benennen zu können, welche Kolonien Deutschland für sich beanspruchte.
Bei meiner Recherche wurde mir klar: Deutschland hatte viele Kolonien – mehr als mir bewusst waren. Dazu zählen unter anderem:
- Ruanda
- Kamerun
- Papua-Neuguinea
- Namibia
- Burundi
- Palau
- Togo
- Tansania
- Marshallinseln
Ich fragte mich einen Moment, wie ich mir das wohl merken könnte. Dann fiel mir ein: Es gibt diesen Merksatz über die neun Planeten in unserem Sonnensystem. Wieso also nicht, dachte ich, eine ähnliche Eselsbrücke bauen? Und so entstand er, der Satz, um mir zu merken, welche Länder Deutschland kolonialisierte. Jedes Wort in diesem Satz steht für den Initial-Anfangsbuchstaben eines Landes, das Deutschland kolonialisierte:
Reichsbeamte kolonisierten, plünderten Naturschätze, betrieben Plantagen (und) töteten tausende Menschen.